Lynn sah sich in dem Zimmer um, das die Verwalterin der Burg Thul ihr zugewiesen hatte. Die holzgetäfelten Wände waren mit bunten Szenen bemalt, offenbar die tragische Liebesgeschichte von Neran und Haldia. Ob die Höhle, in der die beiden erfroren waren, irgendwo hier in der Nähe lag? Im Kamin knisterte ein Feuer, aber es hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, die Kälte der letzten Monate aus den Wänden zu vertreiben. Lynn merkte jetzt erst, wie durchgefroren sie trotz Mantel und Handschuhen war. Der Verwalterin, Mistress Emirell, entging ihr Frösteln nicht.

 

»Ich werde Euch gleich den Zuber füllen lassen, Gesalbte. Nichts wärmt besser, als ein heißes Bad.«

 

»Oh, das wäre wunderbar!«

 

Bald darauf defilierte eine Reihe junger Männer und Frauen mit Kübeln voll heißem Wasser an ihr vorbei und füllte im Nebenraum nach und nach einen Holzzuber. Sie alle verschwanden, still und scheu, wie sie gekommen waren, bis auf eine junge Frau mit glattem, braunem Haar, die noch letzte Handgriffe tat. Derweil blickte Lynn ein wenig ratlos an sich herab.

 

Das erste Mal seit Jahren würde sie sich ohne ihre alte Zofe entkleiden. Ein seltsames Gefühl. Ein einsames Gefühl.

 

»Kann ich Euch helfen, Gesalbte?« Die junge Frau stand in der Tür zum Nebenraum. Lynn zögerte, doch dann nickte sie.

 

»Das wäre sehr nett. Wie heißt du?« Sie hielt ihr die Hände hin, und die junge Frau trat näher.

 

Sie knickste. »Mein Name ist Michelle.« Sie betrachtete Lynns Ärmel, die eng an ihren Unterarmen anlagen, und während sie die Verschnürung des rechten löste, sagte sie: »Darf ich Euch eine Frage stellen?«

 

»Natürlich«, antwortete Lynn.

 

Michelle errötete und zögerte ein wenig, als wisse sie nicht, ob ihre Frage vielleicht ungehörig wäre. Das machte Lynn neugierig.

 

»Nur Mut«, sagte sie.

 

»Wie … fühlt es sich an den No Ridahl zu tragen? Hat es weh getan, als ihr ihn bekommen habt?«

 

Lynn tastete mit der Linken über das vorgewölbte Mal auf ihrer Stirn. Noch immer fühlte es sich glatt an, und die Stelle selbst war taub. »Nein, überhaupt nicht. Es ist, als hätte ich da ein Stück Hornhaut.« Plötzlich musste sie lachen. »Wie ein Ziegenhorn, oder so.«

 

Auch Michelle musste lachen. ,,Verzeiht mir, Gesalbte, ich habe mich ungebührlich verhalten. Es ist nur so unglaublich spannend Euch zu begegnen."

 

»Achwas«, Lynn winke ab. »Ich wünschte, die Leute wären nicht immer alle so schrecklich unterwürfig in meiner Nähe.« Mit leichter Traurigkeit dachte sie daran, dass sich das nicht ändern würde, wenn sie erst Königin war.

 

Michelle biss sich auf die Lippen und zögerte, ehe sie erneut zu einer Frage ansetzte. ,,Wie steht Ihr eigentlich zu Graf Coridan? Liebt Ihr ihn?"

 

Unvermittelt zog Lynn den Arm zurück, und starrte die junge Frau an. Allein der Klang seines Namens verursachte ihr Herzklopfen.

 

»Ich … ich bin die Braut des Kronprinzen.« Es war, als müsse sie sich selbst daran erinnern, sich darauf einschwören. »Wie kommst du zu einer solchen Frage?«

 

Michelles Augen weiteten sich. ,,Das tut mir … Ich wollte Euch nicht verärgern. Ich habe nur bemerkt wie Ihr ihn angesehen habt und da dachte ich.... bitte erzählt Mistress Emirell nichts davon.« Da lag wirklich Angst in ihrem Blick. Einmal mehr wurde Lynn bewusst, wie ungleich die Macht verteilt war. Sie fühlte sich als Frau oft hilflos und ausgeliefert – und doch hatte sie so viel mehr Macht, als die meisten anderen Menschen.

 

Sie lächelte versöhnlich. »Natürlich nicht.« Sie hielt Michelle den anderen Arm hin. »Er ist ja ein stattlicher Mann. Wahrscheinlich wolltest du nur wissen, ob der Platz an seiner Seite noch verfügbar ist.« Sie zwinkerte.

 

Errötend senkte Michelle den Blick und widmete sich der Verschnürung. ,,Aber mal angenommen man ließe Euch nun die Wahl zwischen Pflicht und wahrer Liebe, wofür würdet Ihr Euch entscheiden?«

 

»Ich habe keine Entscheidung zu treffen, so wenig, wie du oder sonst jemand in der Welt. Wir alle haben die Pflichten zu erfüllen, die uns auferlegt sind. Zum Wohle des Ganzen. Über etwas anderes nachzudenken, verursacht nur Schmerz und Leid, eigenes und fremdes.« Ihr Blick ging wieder zu dem Wandgemälde hinüber, auf dem die Liebenden in eisiger Umarmung zu sehen waren. Leise fügte sie an: "Um das zu ändern, müssten wir die Welt verändern.«

 

,,Und das ist nicht einfach. Die Welt ist grausam und herzlos.« Michelle blickte ebenfalls zu dem Wandgemälde. ,,Oft habe ich Angst vor ihr. Angst vor einem Krieg. Fürchtet Ihr Euch auch davor?«

 

»Natürlich.« Es waren immer die Schwachen, die in einem Krieg am meisten litten, die Frauen, das einfache Volk. »Aber ein Krieg ist keine Naturkatastrophe. Er wird von Menschen begonnen und von Menschen geführt. Von Männern.« Mit leiser Bitterkeit fügte sie an: »Von Männer wie Graf Coridan.«

 

,,Aber warum nur geschieht so etwas? Ich verstehe nicht, dass die Männer immer ihren Dickkopf durchsetzen müssen. Sehen sie denn nicht all das Leid?« Wieder blickte Michelle zu dem Gemälde. ,,Gesalbte, was hat Krieg für einen Sinn?«

 

Lynn bemerkte die Tränen welche nun Michelles Wangen hinab liefen.

 

»Ich weiß es nicht.« Sie widerstand dem Impuls, »Kind« zu sagen. »Vielleicht, um uns zu lehren, ihn zu beenden. Diese Männer entfachen ihn, weil sie es können. Weil sie die Macht haben, es zu tun, zu ihrem eigenen Vorteil. Vielleicht sollten wir ihnen diese Macht nehmen.« Sie seufzte. »Aber wie, ohne erneuten Krieg? Wo gibt es das schon, dass die Menschen friedlich selbst bestimmen, wer über sie herrscht?«

 

Betrübt senkte Michelle den Blick. ,,So etwas gibt es nicht einmal in Büchern. Ich habe einmal gehört die Liebe ist das mächtigste Gut auf dieser Welt. Jedoch bezweifle ich, dass sie es schaffen könnte Frieden zu bringen. Oder was meint Ihr Gesalbte ?«

 

»Das wäre schön, aber wurde unser Reich nicht auch durch Liebe geteilt? Ich fürchte, so lange Liebe selbstsüchtig ist und nur an sich denkt, ist sie nicht besser als Hass. Erst, wenn sie jeden umfasst, für alle gleichermaßen gilt, dann kann sie wirklich Frieden schaffen.« Und war nicht genau das ihre Aufgabe als Gesalbte der Erdmutter? Die Liebe der Göttin wirken, die jeden Menschen gleichermaßen als ihr Kind ansah? Das Herz wurde ihr ganz schwer ob der Größe und Unmöglichkeit dieser Aufgabe.

 

Die Ärmel waren nun aufgeschnürt, und Lynn drehte sich um, damit Michelle die Ösen am Rücken lösen konnte. Als das getan war, sagte sie: »Ich denke, ich kann mich nun alleine aus dem Kleid befreien.« In den nächsten Tagen würde sie das ohnehin üben müssen. »Ich danke dir, Michelle.«

 

Michelle knickste. »Es war mir eine Ehre. Es ist alles vorbereitet.« Sie wies zum Nebenraum hinüber und ging, während Lynn voller Vorfreude zu der dampfende Wanne hinüber ging.